Wahrer als das Leben von Martin Schaub

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Der Filmer Markus Imhoof steigert seine Ängste ins Überlebensgrosse. Das scharf beobachtete Chaos der Gefühle bekommt Gestalt: «130 Prozent» sind das Ziel.

Die nachmittägliche Spätsommerreise von Zürich in die nordwestliche Emilia ist bereits in Mailand zur Hochsommerfahrt geworden; in Piacenza, eine Stunde später, begreife ich bereits wieder ein Motiv der südsehnsüchtigen Schweizer Künstler; es geht nicht nur um Licht und Sonne; in der Bahnhofbar stellt man mir für zwei Franken eine Literflasche San Pellegrino auf den Tresen. Clemens Klopfenstein, der erste Schweizer Filmer, der in den siebziger Jahren die Schweiz in Richtung Italien verliess, hat das Leben in der italienischen Provinz – wir sassen in einer geräumigen Küche, wie man sie in der Schweiz nicht einmal mehr zu träumen wagt – einmal ganz kurz und quer so beschrieben: «Hier kostet der Liter Wein weniger als der Liter Benzin.». Markus Imhoof ist pünktlich zu unserer Verabredung gekommen, über den goldgelb schimmernden Bahnhofplatz; unverwechselbar mit seinem federnden Schritt, dem Kraushaar auf dem immer etwas in den Nacken geworfenen Kopf, den schlingernden Armen; weisse Hose und weisses Hemd; Imhoof trägt fast immer Weiss, selbst im Winter. Ich weiss nicht, ob er jemand nachahmt, vielleicht Inder? Oder Kalifornier? Ich habe ihn vor zehn Jahren im schaffhausischen Sieblingen gesehen, als er eine «grosse Kiste» für seinen bisher erfolgreichsten Film, «Das Boot ist voll», inszenierte; da trug er noch einen weissen Strohhut mit schwarzem Band. Er sah aus wie Joseph von Sternberg oder John Huston, nur ein bisschen verkleidet, schien mir, so, wie es Filmregisseure oft tun, das gehört irgendwie zum Metier.
Mit dem kleinen roten Peugeot sind wir in die Colli Piacentini hinaufgefahren, bald einmal auf kleinen Strässchen, an vielen Arbeiterhäusern, dann an einigen Fattorien und Palazzi vorbei; die riesigen Äcker an den sanften Hängen sind bereits wieder umgepflügt; aus der Ferne sehen sie aus wie grosse Gärten, in der Nähe sieht man dann erst, wie tief die Furchen sind. Das ist nicht schweizerische Enge, und Kleinlichkeit; wir fahren an viel vor sich hinrostendem landwirtschaftlichem Gerät vorbei, auf einen Hügel, vor dem sich die sanft abfallenden Täler gegen die Po-Ebene hin öffnen. «Die Toscana ohne Olivenbäume», sagt Imhoof. Es war auch Partisanenland. Wir schauen hinaus in den Dunst über der Po-Ebene. Imhoof hat den Wagen angehalten und lässt einen anderen herankommen. Es ist ein Nachbar, der ihn fragt, ob er morgen zu dem störrischen Pferd hinüberkomme, es ist ein frisch importierter Ungar und noch nicht richtig zugeritten. «Die verstehen halt nicht viel von Pferden», sagt der ehemalige Dragonerwachtmeister, «ich habe die Stute zuerst ausmelken müssen.».

Das Haus, ein schlicht restauriertes früheres Pächterhaus wahrscheinlich, steht an einer Geländekante; auf der Terasse sitzen wir zusammen mit Judith Kennel, Imhoofs Gefährtin seit den Arbeiten für den «Berg», in der Dämmerung bei einer Flasche Weisswein (ohne Etikette) und schauen über die Hügel und dem Vollmond zu, wie er über den Äckern, Wäldern, dem Nachbarweiler mit seinen Reben aufzieht. «Mein Leben sieht toller aus, als es ist», sagt Imhoof. Mit der dreijährigen Arbeit für den «Berg» hat er 50 000 Franken verdient. Wären nicht die drei Theaterinszenierunegn in dieser Zeit gewesen… Das Haus, das Nest, das sich Imhoof allmählich aufgebaut hat, stand leer in den letzten Jahren. «Ich habe fast fünf Jahre lang aus dem Koffer gelebt, vielleicht gelingt es mir jetzt, hier etwas mehr zuhause zu sein.». Bei Cesare im Nachbarweiler essen wir ganz speziell für den heutigen Abend hergestellte Teigwaren von einer nördlich des Gotthards unbekannten weichen Güte. Der dicke Cesare – er sei einmal geplatzt, sagt man« Imhoof fasst ihm an den Bauch und fragt nach dem Wohlbefinden – ruht nicht, bis wir die Teller leergegessen haben. Nach Hause durch die Mondnacht mit Gedanken an Bertoluccis «La Luna» und den mondsüchtigen in «Kaos» der Brüder Taviani., an «La Notte di San Lorenzo». Ein Abend wie ein Geschenk des Himmels.

Markus Imhoof ist am 19. September 49 Jahre alt geworden. Sein zwanzigjähriger Sohn David hat eben die Maturprüfung bestanden, die drei Jahre ältere Tochter Barbara «zählt in Afrika Affen».
David und Barbara: Zwei Namen, die natürlich etwas bedeuten, fast ein Sehnsuchtprogramm: der Kleine und die Fremde, die Wilde, die Natur. Sehnsuchtsnamen, die sich Studenteneltern ausgesucht haben in der Enge der Umstände. Imhoof hat Deutsch unterrichtet (und es gehasst, weil er seine Liebe, deutsche Texte, desinteressierten Schülern «näher bringen» musste), hat Strumpfreklametexte geschrieben, hat an einem Stück gefeilt, hat studiert, an seiner Lizentiatsarbeit über Brechts Stücke und seine Theatertheorie gearbeitet. Das war kein Traum. «Ich brauchte Geld, bevor ich es hatte.». Lehrmeister Brecht sagte es anders. Und Imhoof in seinem Pamphlet über das Essen «Volksmund» (1972): «Wenn du verhungert bist, sagte der Dicke zum Dünnen, bin ich erst schlank.».
25 Lebensjahre in Winterthur – in dieser urschweizerischen durchschnittlichen Mittelstadt, da lagen die Themen offen und verborgen, die Imhoofs Werk auffächert, übersetzt und ausschöpft. Die Familie, die Schule, diese Stadt. «Wehe, wenn wir losgelassen», heisst ein Schülerfilm Imhoofs, den man nicht gesehen haben muss; der Titel allein sagt auch schon genug. In seiner Hauptszene schmeissen Schüler Gipsköpfe aus dem Fenster des Rektorats.

Bis zum sechsten Altersjahr sei sein Leben schön und bunt gewesen, sagt Imhoof, aber er erzählt auch: «Meine Welt hörte genau an jener Strassenecke auf, wo mich meine Mutter, zum Fenster hinauslehnend, noch hat sehen können. Einmal bin ich mit dem Dreirad einfach weitergefahren, und es kamen weitere Häuser und Strassen und Bäume, ich erfuhr, dass die Welt grenzenlos war.».
Der Vater war Deutschlehrer am Technikum, die Mutter unterrichtete an derselben Schule Englisch. Der Vater hatte eine Dissertation zum Thema «Der Europamüde in der deutschen Erzählliteratur» geschrieben, Europa aber nie verlassen; sein Bruder, in der Schule eher mässig, war nach Amerika gefahren, als Auslandkorrespondent der «NZZ». Die Mutter hat in ihrem Sohn, als Spielleiterin des Schülertheaters, das Interesse für die Bühne, die Umsetzung der eigenen Gedanken, Empfindungen, Träume und Nöte ins Sinnliche, geweckt. Aber im ganzen sei die Schulzeit mehr Beengung als Bereicherung gewesen. Von den Mitschülern sei er mit Bewunderung, von den eigenen Eltern eher skeptisch als Aussenseiter beobachtet worden, der gute Zeichner, der Spintisierer, der Bastler.
Mit etwa sechs Jahren hat er, nach dem ersten Kinobesuch, seinen ersten Film gezeichnet, im Primarschulalter einen Filmprojektor konstruiert. Die Geschichte ist bezeichnend: ein zweifelnder Vater, der dennoch die Nachnahme für den bei Franz Carl Weber bestellten 16-mm-Film «Fahrendes Volk» begleicht; erster Projektionsversuch auf ein Leintuch, das der Knabe über den Kachelofen hängt, eine Projektion mit nichts als Regen, weil die Bilder regelmässig über die Lichtquelle gezogen werden, weitere Versuche, «Erfindung» des Malteserkreuzes, das den Film ruckartig durch den Lichtstrahl bewegt. «Bist du sicher, dass es klappt?» habe der Vater gefragt.

Er habe immer Angst gehabt, dass sein Sohn herauskomme wie dessen Grossvater, der geritten sei, der Opernarien gesungen habe und mit einer Konservenfabrik bankrott gegangen sein. Die «Grossvaterwelt» war stärker; als der Grossvater auf dem Sterbebett lag, hat der Enkel mit ihm noch Pferde gezeichnet. Die «Grossmutterwelt» (mütterlicherseits), und damit die Mutter, ist für Markus Imhoof erst später zum Feld der Identitätssuche geworden. Der übermächtige Vater hat zwanzig Jahre lang seine Phantasie herausgefordert, dieser Vater und alles, was mit ihm zusammenhing. Die «bekannte» 68er Geschichte.
1968 ist Markus Imhoof eine öffentliche Figur geworden, mit seinem Gefängnisdokumentarfilm «Rondo», dessen Aufführung der damaligen Zürcher Justizdirektor verbot. Auch dem zweiten, einem satirisch-aggressiven Film gegen die schweizerische Kavallerie, in der Imhoof seinen Dienst tat, «Ormenis 199+69», blühte kein anderes Schicksal. «Manipulation» lautete in beiden Fällen die von den Leuten, die die Macht hatten, vorgebrachte Begründung. Ich nehme an, dass Imhoofs erster Staatsschutz-Fichen-Eintrag aus dieser Zeit stammt. Natürlich vermag keine Fiche, einen jungen Menschen zu zeichnen, der begonnen hatte, seine Widersprüche radikal ehrlich, halsbrecherisch gar, darzustellen und den herrschenden Zuständen dennoch zu widersprechen. Wie soll eine schematische Logik einen verstehen, der ein Gesuch um Vorverlegung deiner Rekrutenschule einreicht, damit er sie als Dragoner bei der Kavallerie absolvieren kann, der an ausserdienstlichen Wettkämpfen teilnimmt und sich da sogar auszeichnet und dann einen Film macht, der die ganze Schönheit des «zu Pferd, zu Pferd» auskostet und trotzdem die Kavallerie als überholtes patriotisches Spielzeug kritisiert, so sarkastisch treffend, dass der Film von Befürwortern und Gegnern in der einschlägigen Nationalratsdebatte zitiert wird? Schematische Logik greift immer zu kurz, wo sich Menschen ändern.

Hätte Imhoof nicht die beiden von Kurt Früh geleiteten Filmkurse an der Kunstgewerbeschule Zürich besucht, hätte er seine Zerrissenheit vielleicht länger und schmerzhafter verinnerlicht. Hätte er nicht unter Leopold Lindtberg am Schauspielhaus hospitiert, hätte er vielleicht zu lange Dokumentarfilme gemacht, Dokumentarfilme, die immer nur einen Bruchteil dessen zu formulieren vermochten, was den Autor herumtrieb, obwohl er wie damals kein anderer in der jungen Schweizer Dokumentarfilmszene die Welt auf seine Aussage hin inszenierte und am Schneidetisch mit allen Mitteln versuchte, «ich» zu sagen.
Schauspieler haben ihn «erlöst». Erlöst, sagt Imhoof an dem Morgen in den Piacentiner Hügeln. «Sie machen das, was ich nur zu denken, aber nicht zu tun wage. Sie sind eine Art Sündenböcke, denen ich alle meine Probleme, meine Wünsche und Gedanken aufladen kann. Dafür liebe ich sie. Wenn es dir gelingt, den Schauspieler ganz genau das machen zu lassen, was du dir vorstellst, hast du dann später auf der Leinwand, sagen wir, maximal 83 Prozent. Wenn du auf ihn eingehen kannst, wenn er auch noch aus sich selber schafft, gibt es dann vielleicht einmal 130.». Der Dokumentarfilm will etwas klären; der Spielfilm will etwas klarmachen, indem er die Wirklichkeit überhöht, steigert, übertrifft.
Woher Mitteilungsbedürfnis kommt, ist immer schwer zu sagen. Warum schreibe ich nicht für mich? Warum genügt mir die gesprächsweise Äusserung nicht? Schreiben, Malen, Musik machen, Filme – das hat immer einen kleinen oder grösseren selbsttherapeutischen Zweck. Und es ist ein mehr oder weniger leiser Ruf nach Zuwendung und Liebe.
Markus Imhoofs Filme sind Ausdruck der Enge, der Rebellion gegen eine Welt, die das Individuum einschränkt, ja in besonders deutlichen Fällen von Eigensinn einsperrt. Es sind Zeugnisse der Sehnsucht nach dem «weiten Land», dieses «weite Land» war für Imhoof die Familie nicht, war Winterthur nicht, war die Schule nicht. Er hat am Gitter der Gefängnisse gerüttelt, 1978 ist er nach Mailand übersiedelt. Seine Filme und seine Theaterinszenierungen sind zugleich Zeichen der Rebellion und Realisierungen der weiten Träume.
Er ist jetzt 49 Jahre alt. In zwanzig Jahren hat er fünf Kinofilme gemacht und ein Fernsehspiel, vier Theaterinszenierungen in Mailand, Luzern und Bern. Nur, muss man bei diesem ungeduldigen Menschen sagen, der «einen Koffer voll» Projekte hat. «Markus, welches ist der Fluch deiner Kunst?» – «Dass du so viele Ideen und Pläne hast und dass du sie dir immer von anderen bewilligen lassen musst. Du musst fragen, bei der Filmförderung, bei den Fernsehanstalten, bei Stiftungen und Produzenten, und sie lassen dich, oder sie lassen dich nicht.»

Natürlich hat andersherum auch das Fernsehen bei Imhoof gefragt. Seine Filme hatte es mitfinanziert, und sie waren aufgefallen, insbesondere «Das Boot ist voll», dieser bis nach Hollywood, wo er unter den letzten fünf im Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film war und schliesslich nur noch von Istvan Szabos «Mephisto» überholt wurde. Imhoof, sein Produzent George Reinhart und sein Kameramann Hans Liechti waren im grossen Auditorium von Los Angeles auf Randplätze gesetzt worden; das heisst etwas. Schon dachte der Regisseur nervös daran, was er – auf englisch – dem Saal und den TV-Zuschauern auf der ganzen Welt sagen wollte. Wahrscheinlich hätte er gar nicht gestottert und gewürgt, wie er befürchtete: Markus Imhoof überfällt in schwierigen Situationen immer wieder eine kühle Ruhe, die ihn entschieden das Richtige oder das Falsche tun lässt.

Für die Fernsehanstalten wäre der Regisseur Imhoof eine gute Karte gewesen. Doch bis auf ein Mal («Isewixer», 1979) ha er die Angebote abgelehnt; inzwischen gilt er dort bereits als elitär. Imhoof hat meistens abgelehnt, weil ihm Fernsehanstalten wie private Produzenten «Folgestoffe» angeboten hatten, Gefängnisstoffe nach «Fluchtgefahr», viele Emigrations- und Exilgeschichten nach das «Boot ist voll». Die hätte er bloss umzusetzen brauchen, für nicht sehr viel, aber sicheres Geld. Aber das will er nicht. Erstens muss ein Stoff in seine Entwicklung, zum Stand seines Bewusstseins und Zorns passen, und zweitens weiss er, dass er völlig unfähig ist, einen Film «mit der linken Hand» innert nützlicher Frist zu machen (Das Regiehonorar eines «Tatorts» beträgt zurzeit 45’000 Franken; wenn einer mehr als ein halbes Jahr daran arbeitet, legt er drauf, zumindest Lebenszeit) Für «Fluchtgefahr» und «Tauwetter» hat er je vier Jahre gearbeitet, zwei Jahre für «Das Boot ist voll» (plus ein Jahr Begleitung des Films über die ganze Welt), für «Die Reise» und «Der Berg» wieder die obligaten vier. Neben dem Drehbuchschreiben, den Eingaben, den aufwendigen Besetzungsrecherchen sind es wieder die immer angestrebten «130 Prozent», die die Arbeit so langwierig werden lassen.
Imhoof hasst Halbheiten, bei sich und bei denen, die mit ihm arbeiten. Der ungeheure Anspruch, dieser heisst Perfektionismus, macht seinen Mitarbeitern das Leben nicht leicht. Er ist noch einer jener kompletten Filmemacher. Für einen Film setzt Imhoof Freundschaften aufs Spiel… und Beziehungen. Er hat sich von seinen Filmen «auffressen» lassen, weil er so «angefressen» ist. Die Produktionsbedienungen und seine ungeduldige, fordernde Art haben es ihm nicht gestattet, Kunst und Leben oder Beruf und Privatleben zu trennen. Auf seinen «heiligen Eifer» blickt er selbst, wenn er dazukommt, nicht unkritisch und nicht ohne Scham zurück. «Die Reise» macht – Buch von Bernward Vesper folgend – den Vätern den Prozess, die so rasch aus dem Krieg in den kalten Krieg gestolpert sind, ohne Zeit und ohne Lust, über die autoritären Strukturen der europäischen Gesellschaft nachzudenken. Aber Markus Imhoof hat vor drei Jahren gesagt, vor einem Vater-Film seines damals 17jährigen Sohnes müsste er viel Kritik und Bitterkeit erwarten, bei all dem, was er ihm und was die 68er Väter einer ganzen Generation zugemutet hatten.

Immer beeindruckt Imhoof mit seinen auch sich selber gegenüber unerbittlichen Analysen. So arbeitet er, ganz aus seiner permanent belauschten und befragten Innerlichkeit heraus. Das Resultat der Arbeit aber vermag er zu interpretieren wie ein unbefangener Aussenstehender. Das macht den Fortgang seiner Arbeit so spannend, zu einer Art Entwicklungsroman.
Seine Dokumentarfilme begründen sozusagen sein Unbehagen in den schweizerischen Konventionen. Die Spielfilme führen sie vor; dabei kann man als Betrachter die Zuschreibung «schweizerisch» allmählich fallenlassen. Die Grundierung der Filme wird zunehmend philosophisch. Das heisst auch, dass Imhoof der Wahrheit seiner Erfindungen immer mehr vertraut, und das wiederum impliziert einen sich wandelnden Umgang mit den Schauspielern. Die Hauptfigur von «Fluchtgefahr» (1974), einen kleinen Missetäter, der sich im Knast zu einem richtigen Tunichtgut entwickelt, hat er zuerst von einem einschlägig gefährdeten, noch beinahe laienhaften Schauspieler darstellen lassen wollen. Er selbst hatte das Gefängnismilieu als Hilfswärter von nah kennen gelernt, hatte mit zahlreichen Sträflingen und Ehemaligen gesprochen; die Wahrheit seines Films liess er sozusagen von den äusseren Tatsachen verbürgen, die Uraufführung fand in einer Strafanstalt statt. Die Wahrheit von «Tauwetter» (1978), dem Kammerspiel des Ausbruchsversuchs einer Frau aus einem mit einer Frühehe zu rasch bürgerlich gewordenen Leben, war zweifellos die eigene Lebenserfahrung. «Das Boot ist voll» (1980) begleitete er mit einem umfangreichen Dossier zur Asylpolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Die Recherchen für «Die Reise» führten ihn nicht nur in die eigenen (Kindheits-)Erfahrungen autoritärer Verletzung, sondern tief in das Milieu der deutschen ausserparlamentarischen Opposition und sogar in RAF-Kreise. Solcher Vergewisserungen, solcher Strategien zur Erreichung der ersehnten 130 Prozent Wahrheit bedarf nun «Der Berg» nicht mehr. Die Geschichte, auf die der Film zurückgeht, der Doppelmord am Wetterwartehepaar Heinrich und Helena Haas am 21. Februar 1922 auf dem Säntis, biegen er und der Drehbuchautor Thomas Hürlimann so um, dass sie eigentlich nur noch Anstoss und nicht mehr Inhalt ist. Vor zwanzig Jahren wäre Imhoof der verbürgten Geschichte wohl noch treu geblieben (falls sie ihn überhaupt interessiert hätte), und er hätte die Rollen womöglich mit berggewohnten und erst noch ostschweizerischen Schauspielern besetzen wollen. Bestimmt hätte er das Drehbuch allein geschrieben. Nun besetzt er die Hauptrollen mit drei «Königstigern» von der Schaubühne Berlin und vom Hamburger Schauspielhaus, und er hat mit einem Bühnenautor zusammengearbeitet. Das Stück muss ganz aus sich heraus funktionieren.

In den Colli Piacentini haben wir über Schauspieler… und über Pferde gesprochen, Imhoofs zwei grosse Leidenschaften. Die Diskussion wurde spekulativ bis zu dem Punkt, da Imhoof sagte: «Schreib ja nicht, ich liebe die Schauspieler wie die Pferde. Keiner würde mehr mit mir arbeiten wollen.» Er war’s wirklich nicht, der die zwei Partnerschaften zusammengebracht hatte, das Gespräch war’s, ein Gespräch über Potentierung, über Harmonie und über Steigerung.
Von allen Menschen, die ich kenne, spricht Imhoof am meisten in Bildern. Manchmal, räumt er ein, werde er wohl deswegen nicht verstanden. (Ein Schauspieler hat ihn einmal mit grossen Augen angeschaut, als er ihn fragte:«Könntest du den Satz nicht noch etwas grüner sagen?» Kunststück.) Bildlich spricht er auch von Schauspielern. Sie machen für ihn vor der Kamera das, was er nur zu phantasieren wagt; sie wehren sich ihrer Haut wie Tiere, sie lieben und sie morden. Sie werden überlebensgross wahr. Sie machen aus 100 Prozent Vorstellung 130 Prozent Wirklichkeit. Sie steigern, sie treiben den Realismus über die engen Grenzen des Warum und Wozu hinaus. Mit den Schauspielern (und schon beim Drehbuchschreiben mit dem Dichter) meint Imhoof, das Gefängnis der eigenen beschränkten Vorstellungen sprengen zu können.

Noch einmal bildlich gesprochen: Auf der Rückfahrt zum Bahnhof von Piacenza kommen wir ein letztes Mal auf die Pferde zu reden. Er hätte, scherzt er, seine Reiterauszeichnungen ja noch auf die Türe zum leeren Stall heften können, würde sich ja gut machen, oder? Ja, und ich denn? Meine Leichtathletik Trophäen etwa? «Was, du hast Leichtathletik gemacht? Na ja, mit so langen Beinen. Ich musste meine eben verlängern.»
«Verlängerung» – will sagen Arbeit mit Schauspielern – unterrichtet Markus Imhoof übrigens seit zwei Jahren an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Diesen November profitieren Schweizer Filmemacher in einem Workshop von seinen Erfahrungen und Ideen.
Ausgerechnet für das Fach Schauspielerführung, einen Schwachpunkt im Schweizer Film, gibt es einen einheimischen «Spezialisten», der freilich nicht hier sitzen geblieben ist, sondern in Mailand, Berlin, Bochum gleichermassen zu Hause, und das heisst unterwegs, ist wie im zürcherischen Aathal im ehemaligen Mädchenheim der Spinnerei Streiff, einem jener verborgenen Treibhäuser unserer Kultur, in dem in den letzten zwanzig Jahren wechselnde Bewohner ihre Träume und Pläne diskutiert und kultiviert haben: Filmer, Verleger, ein Produzent, mit, nach oder vor Markus Imhoof auch Georg Radanowicz, Hans-Ulrich Schlumpf, Thomas Koerfer und Friedrich Kappeler, George Reinhart und Egon Ammann.

 

– Tages Anzeiger Magazin Nr. 43, 26./27. Oktober 1990