Volksmund ist zunächst ein Film über die Gefrässigkeit. Das ganze Volk als grosser, geiler, kauender schleckender Mund. Aus allen Konsumierlüsten habe ich das Paradigma Essen gewählt, weil es sich hier um die ursprünglichste Art des Verbrauchs handelt, der Konsument ist mit dem Konsumierten so eng verbunden, dass er damit verschmilzt und schliesslich davon erstickt zu werden droht. Feuerbachs Aphorismus: «Man ist was man isst» hat seine makabre Gültigkeit. (Das ist tatsächlich so zu verstehen: man besteht aus dem, was man gegessen hat, nicht bloss: man erkennt jemanden an der Art, wie er isst.) Grundlage dieser Ebene des Films ist der Energieerhaltungssatz aus der Physik:
«Der Vorrat des Weltalls an Energie ist unveränderlich. Alle Naturvorgänge sind nur Energieumwandlungen, niemals aber Energieerzeugung oder Energievernichtung.»
Es finden also lediglich Stoffwechselvorgänge statt, Stoffe oder Energien wechseln die Besitzer. Mein Körper baut sich auf aus den Energien von Kühen und Kartoffeln. Statt Stoffwechsel könnte man auch Lebenswechsel sagen.
Die Frage, welches Leben geopfert werden soll, wird vom Recht des Stärkeren entschieden. Dass die Menschenrasse über die anderen Säugetiere gesiegt hat, ist eine grausame Banalität, welche mit Schlachthofmauern und stilisierenden Tischsitten tabuisiert wird.
Weniger banal ist die Tabuisierung zwischenmenschlicher Wertstufungen, z.B. zwischen uns und der dritten Welt. (Der Film zeigt bewusst keine hungernden Negerkinder, sondern versucht, in der Darstellung des Üppigen so weit zu gehen, dass die Kehrseite unausgesprochen ins Bewusstsein des Zuschauers dringt. Natürlich ist die Gleichung nicht so naiv: dort hungern sie, weil wir zuviel fressen; schon eher, weil wir zuviel filmen.
Da wird mein eigenes Lustbedürfnis sichtbar und kommt mir in die Quere. Es ärgert mich, dass der Asket belohnt werden soll, weil er sein zur Verdauung notwendiges Blut für die Gehirntätigkeit aufspart. Lust ist lustig. Fast jede Darstellung von paradiesischem Glück nennt sorgenfreies Essen als eines der Hauptkriterien. Neben der täglich wiederkehrenden Bedrohung durch den Hunger, welche die Genesis ausspricht, bekommt Nahrung fast die Bedeutung von Leben schlechthin. Sichtbar wird das etwa an Leichenmählern, wo sich die Zurückgebliebenen angesichts des Todes «ins Irdische verbeissen», um zu manifestieren, dass sie noch leben.
Ich würde sogar die metaphysische Behauptung wagen, dass wir das Essen, das feinschmeckende, reichliche, lange Essen als eine Art paradiesisches Relikt erleben. Darum darf man uns nicht telephonieren zwischen halb eins und halb zwei. Wie der Säugling, der Nahrung im Zusammenhang mit dem freundlichen Gesicht der Mutter erlebt, glauben wir uns vielleicht noch jetzt irgendwoher geliebt, wenn wir ausgiebig zu essen haben.
Zwar sträuben wir uns gegen das verführerische Kalkulieren dieser unserer Sehnsüchte durch die Werbung, leiden aber auch ungern der Spielverderber, der uns den Genuss verbieten will.
Denn wenn Lust die List der Natur ist, welche die Stoffwechselvorgänge garantiert, wenn stoffwechseln als medizinische Definition leben bedeutet, dass heisst körperlich geniessen das Leben in seiner Konkretheit bejahen.
«Das Lustprinzip ist die Ökonomie der Lust. Das Ziel ist jedesmal die Erzeugung von Lust oder die Vermeidung der Unlust.» (Freud) Der Einfachheit halber setzen wir dieses extreme Lustprinzip als einen Pol. Es soll nicht jeglicher Antrieb des Menschen darauf reduziert werden, sondern ein extremer Antrieb individueller Aktivität, der in unserem Sachbezirk vereinfacht und glaubhafter mit den Worten Appetit, Egoismus, Futterneid umschrieben werden könnte? (gefährliche Vulgarisierungen?)
Die bedingungslose und deshalb rücksichtslose Huldigung der Lust verstimmt aber gleichfalls, eben, weil sie – im Bereich des Energiesatzes – mit dem Lustbedürfnis des andern in Konflikt kommt und anderseits den geniessenden Körper selbst bedroht. Denn eine Maschine kann nur soviel Energie aufnehmen, wie sie verbrauchen, z.B. in Arbeit umwandeln kann. Der Mensch hat aber den Bewegungsapparat seines Organismus durch die Technik beinahe überflüssig gemacht, doch nicht zugleich die Impulse vernichtet – die Lust hat ihn daran gehindert – welche Betriebsstoffe für diesen fast lahmgelegten Bewegungsapparat herbeischaffen. Nun wuchert ihm das Ergebnis seiner funktionslos gewordenen Lust unter der Bauchdecke.
So wird das Plädoyer für die Diesseitigkeit zugleich wieder ein Film über die Gefrässigkeit.
Das Ergebnis ist zynisch, bestenfalls melancholisch. Der Weg dazu führt über die Ironie.
Man wirft mir vor, dass man mich nicht zu fassen kriege. Wie soll ich mich fassen lassen, wenn sich die Erkenntnisse nicht fassen lassen? Natürlich habe ich eine Dominante, in deren Richtung ich den Zuschauer zu führen suche; er soll unmerklich folgen. Das Ergebnis aber ist die Summe der Teile, nicht ein Schlussatz für den Kathechismus. Ich muss versuchen, über die Abgeklärtheit der Pfarrherren und Missionare unter meinen Grossvätern wieder ins Fragen hinüber zu kommen.
Die Summe der Teile wird erreicht mit einem dialogischen ironischer Rechenspiel, welches scheinbare Eindeutigkeiten immer wieder durchbricht, den Zuschauer in feinen doppelten Boden hinunter fallen lässt. Das einfachste Mittel dazu ist die mehrschichtige Wirkungsmöglichkeit von Bild und Ton.
z.B.:
Während der Chirurg den Fettbauch der dicken Frau aufschneidet, spricht die Anstandlehrerin kurz über das Halten von Messer und Gabel. Das ist zunächst eine Erinnerung an «man ist, was man isst.» Der Zuschauer soll aber damit die Möglichkeit erhalten, sich von der folgenden Szene mit Lachen Distanz zu schaffen: Während die Fettstücke vom Bauch geschnitten werden, wird die Geschichte vom Reichen Mann erzählt: «Gedenke, Du hast Dein Gutes empfangen in Deinem Leben, Lazarus hingegen hat Böses empfangen. Nun wird er hier getröstet und Du wirst gepeinigt.»
Die Einleitung mit der Anstandsdame und die Situation im Operationssaal, zu welchem dieses Bibelzitat erscheint, sollen zu verstehen geben, dass dieser Verweis auf jenseitiger Gerechtigkeit vom Dicken nicht sosehr als Mahnung aufgefasst wird, sondern als Alibi gegenüber dem Hungernden, welcher Ersatz und Trost im Jenseits schon bekommen werde.
Auch im Bildablauf des Films (der in groben Zügen dem Stoffwechsellebenslauf von Geburt bis zum Tod folgt) äussert sich die Mehrschichtigkeit in einer Collagestruktur. Für den Zuschauer einfacher lesbar erklären und relativieren sich die einzelnen Sequenzen oder Bildblöcke gegenseitig.
In unserem Beispiel:.
Der abgeschnittene Bauch der fetten Dame wird – scheinbar – dem Hündchen in der nächsten Sequenz vorgeworfen. Wie nach einem Jungbrunnen tanzt jetzt dort eine junge schlanke Nacktheit. Unter einem Tusch der Musik wird «Lazarus» im Sarg hereingetragen, der «Hungerkünstler Schweizerischer Art», der mit Turban, Lendenschurz und Hunger Pakistan mimend, gegen gute Bezahlung sechs Tage ausgeharrt haben soll. Sein Erfolg will es, dass er recht gut genährt ist. Klarer aber sehr plump wäre es gewesen, nach der Fettschützenoperation richtige Dritte Welt zu zeigen. Mit dem gutbezahlten Operettenhunger liess sich aber zugleich unser Verhältnis zu diesem Hunger zeigen.
Fast nirgends im Film werden Ergebnisse ausgesprochen, sie sollen als Resultante aus zwei oder mehreren Komponenten vom Zuschauer gelesen werden. Die Anforderungen an den Zuschauer sind gross. Vielleicht habe ich das Spiel etwas weit getrieben; ein Stücklein Zirkus ist schon Absicht.
– Markus Imhoof, 1972