Rede zur Anerkennungsgabe der Stadt Winterthur, 1997

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Verehrter Herr Stadtpräsident, liebe Winterthurerinnen und Winterthurer, liebe Freundinnen und Freunde. Ich habe das alles nicht erwartet – das ist das Schönste daran, besonders in der Zwischen-Zeit, in der ich mich befinde, wo ich erst einen heimlichen Plan habe für eine neue Arbeit. Fast die Hälfte meines Lebens habe ich hier, in dieser Stadt, gewohnt. Meine Kinder sind hier zur Welt gekommen, meine Eltern sind hier begraben. Da stellt sich die Frage: Hätte ich andere Filme gemacht, wenn ich anderswo aufgewachsen wäre, würde ich anders denken, anders fühlen?
Ganz am Anfang reichte meine Welt von der Ecke St. Georgenstrasse/Trollstrasse bis zur Ecke St. Georgenstrasse/Schwalmenackerstrasse, und zwar beschränkt auf das südliche Trottoir. Soweit konnte mich meine Mutter im Auge behalten, wenn sie sich aus dem Fenster beugte.
Nachts im Bett malte ich mir die Unendlichkeit aus: weit hinter den Sternen kam vielleicht eine Backsteinmauer… aber vielleicht war ein Fenster zu finden, wo man durchklettern konnte. Und auf der anderen Seite?… Alles ganz hell… und dann?… weit, weit weg wahrscheinlich eine Glasscheibe,,, aber was sieht man dahinter? Schwindlig im Kopf und wütend über die Unlösbarkeit der Frage schlief ich ein.
Mindestens die mir zugängliche Grenze aber wollte ich überschreiten! Heimlich bog ich mit meinem Dreirad an der Ecke St. Georgenstrasse ab in die mir verbotene Schwalmenackerstrasse, gelangte staunend an einen verkehrsreichen Boulevard mit Trambahnen, die Römerstrasse, in die ich links einbog. Die leichte Steigung machte es anstrengender, aber mein Herz klopfte auch, weil sich das Baumdunkel immer mehr als einbrechende Dämmerung erwies. Aber ich erlebte ein Wunder: die Welt ging immer weiter! Ins Schwirren aus Angst und Entdeckerfreude mischten sich die Züge, die Fuhrwerke, der Verkehr, die eiligen Schritte der Erwachsenen, die mir entgegenkamen – ich hörte das wirkliche Rauschen der Welt.
Im Dunklen musste ich umkehren, ohne das Ende gesehen zu haben. Natürlich war es eine Enttäuschung, heimzukommen aus der Unendlichkeit. Die Eltern hatten schon die Polizei verständigt.
Meine ersten sechs Jahre waren die glücklichsten meines Lebens. Sechs der Phantasie überlassene Jahre, bevor die Dressur einsetzte. Ich sehe es meinen Kinderzeichnungen an, wie etwas verloren geht. Im Laufe der Zeit gewöhnen wir uns scheinbar daran, dass wir die wichtigsten Fragen nicht beantworten können. Wir werden trainiert, Grenzen zu akzeptieren. Gibt es denn gar keinen Ausweg?
Kann man sein Leben nicht selber erfinden – wie einen Film? Oder mindestens Einfluss nehmen, es nach eigenen Wünschen verändern, korrigieren? Ist unser Leben bestimmt von Herkunft, Schicksal und Zufall oder gibt es doch die Chance eines freien Willens? Von all den unbeantworteten Fragen ist das wohl die, die mich am meisten interessiert.
Im Talmud ist der freie Wille keine Chance, sondern eine Verpflichtung, eine Verantwortung.
Calvin dagegen hat den freien Willen gestrichen: alles ist für ihn vorausbestimmt wie bei einem gestellten Wecker.
In einer indischen Geschichte antwortet der Weise auf die Frage eines Schülers nach dem freien Willen: stell dich auf ein Bein. Der Schüler tut es und der Weise fährt fort: jetzt zieh noch das andere Bein hoch.
Fast labormässig wollte ich ausprobieren, meine Biographie zu korrigieren, indem ich nach Mailand umzog. Ich brauchte dazu einen grossen Möbelwagen, um meine Herkunft mitzunehmen. Am Sekretär meines Grossvaters, auf einem Stuhl sitzend, den mein Urgrossvater aus einem eigenen Kirschbaum geschreinert hatte, schrieb ich in Mailand das Drehbuch und die Dialektdialoge für meinen wohl schweizerischsten Film «Das Boot ist voll». All die Jahre in Italien habe ich wahrscheinlich mehr über die Schweiz nachgedacht, als wenn ich in Winterthur geblieben wäre. Das zweite Bein konnte ich nicht hochziehen. Ich konnte nicht in Rimini geboren worden sein, wie Fellini…
Sogar kleinere regionale Unterschiede spielen eine Rolle: Daniel Schmid wird man immer ein bisschen anmerken, dass er in einem Hotel in Flims aufgewachsen ist; Fredi Murers Phantasie kommt aus der Innerschweiz und Thomas Hürlimann wird sein Kloster nie mehr ganz los. Der phantastische, in Rimini geborene Meister hat gesagt: Phantasie ist Erinnerung.
Wieviel Phantasie ist denn erlaubt für jemanden, der in Winterthur aufgewachsen ist? Darf es in der «Stadt der Arbeit und der Schönen Künste», wie sich Winterthur auf einem Poststempel nannte, über den Realismus hinausgehen? (Man kann bei dieser Frage Winterthur fast als Synonym für die Schweiz nehmen.). Wenn man sich umblickt stellt man erstaunt (und vielleicht heimlich enttäuscht) fest, dass das beste in der Schweizer Kultur tatsächlich einen starken realistischen Anteil hat: von Gottfried Keller, der seinen «Grünen Heinrich» übrigens anfängt mit dem Kapitel: «Lob des Herkommens». Gotthelf, Frisch, selbst Walser, sogar der «Welsche» Ramuz, aber auch Hodler. Selbst die Phantasien von Füessli sind realistischer als die von Goya; der Winterthurer Bill ist sicher kein Phantast und Tinguely führte die Uhrmacherei ad absurdum. Dürrenmatt und der Weltenbummler Cendrars haben den Realismus vielleicht am höchsten fliegen lassen, aber richtige Opern sind in der Schweiz keine entstanden. Wir wissen: Buñuel und Fellini sind leider eindeutig keine Schweizer.
Scheint das also zu heissen, dass der abgesteckte Raum, die abgesteckte Freiheit von Ecke Trollstrasse bis Ecke Schwalmenackerstrasse auch im Denken, Fühlen, also auch in der Kunst gilt?
Am produktivsten wird diese Frage sicher, wenn man sich nicht dagegen wehrt, wenn man das Standbein akzeptiert, um daraus Kraft zu schöpfen, das Spielbein wirklich zu nutzen. Woody Allen, der im Grunde seines Herzens viel lieber Bergmanfilme drehen würde, hat das humorvoller formuliert: «accept your limits and enjoy life».
Einen Film kann man nicht allein machen. Es braucht Partner, die helfen, eine Idee ins Dreidimensionale zu übersetzen und von dort wieder in die zwei Dimensionen des Bildes. Drehbuchmitarbeiter, der Produzent, der Kameramann: die vier Augen, die ein Auge werden; die Equipe, zwanzig, dreissig verschiedene Menschen (jeder mit seiner eigenen Herkunft); in Indien waren es zum Teil über hundert; und vor allem braucht es die Schauspieler, die all die Gedanken und Worte des Drehbuchs in Körper und Emotion umsetzen. Sie sind mir die geheimnisvollsten und wertvollsten Partner in meiner Arbeit. All diesen vielen Mitarbeitern und Freunden möchte ich heute Abend besonders danken.
Mein langjähriger Freund fehlt heute; Tschöntsch Reinhart. Er ist im letzten Oktober gestorben. Wir sind zusammen in Winterthur ins Gymnasium gegangen und haben sechseinhalb Jahre lang an der Abzweigung unseres Heimwegs von der Schule all die unlösbaren Fragen und vieles mehr zu lösen versucht. Jahre später haben wir zusammen eine Filmproduktion gegründet. Drei meiner Filme sind so entstanden: «Tauwetter», «Das Boot ist voll» und «Die Reise»; später kamen für ihn fast zwei Dutzend Filme von anderen Autoren dazu. Im Spass hat Tschöntsch manchmal gesagt, wenn er gefragt wurde, warum er Filmproduzent sei: er möchte einmal an einem Festival all seine Filme hintereinander projiziert sehen. Vielleicht könnten wir das ja in Winterthur einmal veranstalten.
Für heute Abend habe ich einen Ausschnitt ausgewählt, aus einem meiner Filme, der mir besonders am Herzen liegt: «Die Reise». Der Film basiert auf dem autobiographischen Roman von Bernward Vesper, der im Focus seiner Familiengeschichte die ganze deutsche Nachkriegsgeschichte sichtbar macht. Will Vesper war ein berühmter Nazidichter, sein Sohn hatte mit der Terroristin Gudrun Ensslin ein Kind.
Mein Vater war alles andere als ein Nazi, aber mein eigener kleiner Winterthurer Generationenkonflikt war in dieser Geschichte eindrücklich überhöht. Es ist auch ein Film darüber, ob man seiner eigenen Herkunft entkommen kann. «C’est difficile, de contenter tout le monde et son père.»
Obwohl es mein Vater in seinen Tagebüchern – wie ich jetzt weiss – anders formuliert hat, schien er am längsten an mir zu zweifeln. Dass mir jetzt die Vater-Stadt diese Anerkennung zuspricht, gibt mir den Mut zu glauben, dass vielleicht doch nicht alles umsonst war.
Es ist nicht nur das Geld und die Ehre, die mich freuen; es ist mindestens so sehr der Ausdruck von Hoffnung, die damit verbunden ist. Die Arbeit an einem Film dauert mindestens drei Jahre; es können aber auch fünf und mehr sein: ein Jahr, um das Drehbuch zu schreiben, ein Jahr oder mehr, um das Geld zu finden, und ein Jahr, um den Film zu machen. Die reine Drehzeit, wo das Wesentliche fast unwiderruflich entsteht, dauert nur 40 oder 45 Tage. Ich kann ihnen gestehen; in diesen Jahren ist viel Zeit für Zweifel und Verzweiflungen. Ein bisschen Rückenwind auf dem Weg tut gut. Ich danke der Stadt Winterthur, und allen, die zum Feiern gekommen sind, herzlich dafür.

 

– Film Bulletin Nr. 2, 1998