«Greed» ist einer der ersten wirklichen Filme, die ich in meinem Leben gesehen habe und ist Schuld daran, dass ich (noch im selben Jahr) begonnen habe, selber Filme zu machen. Mich faszinierte an «Greed» nicht nur, was ich auf der Leinwand sah, sondern ebenso die Geschichte des besessenen Autors, die man dahinter spürt: Stroheim, damals noch Statist, hatte in einem Hotelzimmer in Hollywood einen zerlesenen Roman gefunden, den er verschlang, statt zu schlafen und schwor sich am Morgen, sich diese Welt selber in einem Film zu schaffen, in Realdekors (oder Bauten mit echten Zimmerdecken für ein realistisches Licht), mit Alltagsmenschen und «real dirt and real foulness» und schliesslich in der Wüste, die der Crew und den Schauspielern beinahe wirklich zum «Death Valley» geworden wäre, in zweijähriger Drehzeit und unter Verlust seines ganzen Vermögens.
(Dass ihm zum Schluss die Produzenten den Film von 46 auf 10 Rollen verstümmelten, indem sie zwei kontrapunktierende Nebenhandlungen einfach wegschnitten, so dass Stroheim sein eigenes Werk nicht mehr anerkannte, ist nur die Konsequenz seiner Besessenheit.)
Erst viel später habe ich einen Aufsatz von Stroheim zu «Greed» gefunden mit dem Titel: «Dream of Realism…». Dieser wunderschöne Widerspruch macht für mich das Wesen von Kino überhaupt aus.
Die Filme, die ich mit der «Carte Blanche» – völlig subjektiv und ohne jede Lust auf Systematik – ausgewählt habe, sind Spielformen dieses Realismustraums : Realität – aber etwas mehr.
In «La Grande Illusion» kann man sehen, was sich Stroheim als realistischer Schauspieler alles herausnimmt, wie er bis an die Grenzen geht! Nur der beste Schauspieler kann sich erlauben, die Hosen im unpassendsten Moment in dieser arrogant ordinären Weise hochzuziehen oder überhaupt so unsympathisch auszusehen und trotzdem das Verständnis des Publikums zu haben.
Renoir, der ehemalige Kampfflieger (seltsam genug) hat zwar Gabin gebeten, seine eigene Fliegerjacke zu tragen, aber den Luftkampf selber, den jeder realistische Amerikaner ausgekostet hätte, zeigt er folgendermassen: Der französische Offizier, der sich zum Einsatz bereit macht, wird gefragt: «Bevorzugen Sie den Combi oder den Pelz?» «Gleichgültig», antwortet der Offizier «Das Combi riecht schlecht und der Pelz verliert Haare.»
Der deutsche Offizier Stroheim öffnet seine Fliegerjacke und sagt: «Ich habe eine «Caudron» abgeschossen. Wenn es Offiziere sind laden Sie sie zum Essen ein.»
Renoir interessiert sich nicht für die Oberfläche der Realität, sondern mit Genauigkeit und Zärtlichkeit für die Wirklichkeit seiner Menschen.
Wenn Gabin (Maréchal) zum Beispiel den hinkende Rosenthal verlassen will gegen Ende des Films, zeigt Renoir im Streit zugleich die Verzweiflung darüber, dass es zum Streit gekommen ist, indem er die bei den Offiziere das Kinderlied «Il était un petit navire…» singen lässt (!) Sie brüllen sich das Lied zu, antworten sich, versuchen sich zu übertönen und versöhnen sich daran.
Absurd, überhöht, widersprüchlich – immer glaubhaft: Realismus – aber etwas mehr. Dazu müsste man den Mut haben.
Es ist sicher kein Zufall, dass Renoirs Film «Toni», die Geschichte eines italienischen Gastarbeiters in Marseille, den jungen Rennpferdetrainer Visconti für den Film begeistert hat. Er sah ihn in Paris im Kino und liess sich sogleich als Renoirs Assistent anstellen. Nach zwei Filmen schlug ihm der Meister das Thema für seinen Erstling «Ossessione» vor. In all seinen Filmen hat Visconti versucht, die Möglichkeiten des Realismus auszuweiten. Nach den neorealistischen Anfängen hatte er sich aber mit «Le Notti bianche» zu weit ins Theatralische vorgewagt. «Rocco e i suoi Fratelli» ist eine Art «run for cover» zum Neorealismus zurück, aber auf einer höheren Ebene.
Zwei Welten prallen hier aufeinander: Norden und Süden, Gefühl und Effizienz, Ehre und Pragmatismus, Mutter und Hure, Armut und Fortschritt, archaische Tradition und 20. Jahrhundert. Es entsteht daraus sowohl ein Melodrama, als auch eine genaue Analyse der sozialen und politischen Spannungen Italiens. Ohne je theoretisch zu werden gelingt dies scheinbar mühelos «bloss» durch die genaue Beschreibung der fünf Brüder, der Mutter und der Hure.
Ich hatte lange Zeit das aus einer Klinik gestohlene Röntgenbild von Viscontis Kopf am Fenster vor meinem Arbeitsplatz aufgehängt. Man sah darauf, wie das Blut im Gehirn kreist. Aber hinter das Geheimnis kam man dadurch nicht.
Bei Buñuel zeigt der Realismus das Gewicht der Welt auf, als ständiger Beweis, dass Fluchtversuche, Sehnsucht und Glaube sinnlos sind. Die «Dosis Affekt», die Buñuel von Realisten fordert, entsteht in seinen Bilder aus dieser Spannung zwischen Sehnsucht und Ekel, oft auch mit böser Ironie vereint.
Das bleibt auch so in seinem dokumentarischsten, also realistischsten Film «Los Olvidados» («Die Vergessenen», ein Titel der diesen Widerspruch schon impliziert, und raffiniert damit umgeht, dass
es ein Auftragsfilm des mexikanischen Erziehungsministeriums ist). Die Darstellung der Wirklichkeit ist getragen von der verzweifelten Wut, diese Wirklichkeit zu ändern, auch wenn klar wird, dass es sinnlos bleibt. Diese Aussichtslosigkeit stachelt im Gegenteil Buñuel wie Sisyphus immer neu an. In «Viridiana» kauft einer einen Hund, der kurz angebunden zwischen den Rädern eines Karrens mitlaufen muss, so schnell der Karren eben fährt. Kaum hat er das Tier befreit, fährt von der Gegenseite ein anderer Eselkarren vorbei. Zwischen den Rädern trottet ein Hündchen. Wirklichkeit als Alptraum.
«Film scheint eine unbeabsichtigte Imitation des Traums zu sein», sagt Buñuel. Aber das Gewicht der Welt hält die Träume wach. Oder, wie Buñuel André Breton zitiert: «Das wunderbarste (– oder entsetzlichste?) im Phantastischen ist, dass das Phantastische nicht existiert, alles ist wirklich.»
Nicht in allen Filmen fliegt der Realismus so hoch. Es gibt Filme, die wie in Turnschuhen über die Realität gehen, dass man die Temperatur des Asphalts durch die dünnen Sohlen zu spüren glaubt. Sie erreichen unheimliche Sinnlichkeit.
«Wanda» von und mit Barbara Loden gehört dazu.
Die Lokalfarben verschlucken die Story, Chiffern wie die ziellosen aber unfreien Kunstflugmodelle sind fast zu viel, die symmetrische Totale der Bank vor dem Überfall wirkt schon wie aus einem «richtigen» Film. Meist verzichten die Bilder überhaupt auf Syntax und Interpunktion der Montage und vertrauen ganz auf die Authentizität der Zeitabläufe.
Die Geschichte einer Frau, die zu Hause wegläuft, ist gefilmt wie ein beliebiger Angriff in Vietnam oder ein Radrennen.
Ein Glaubensbekenntnis des Zweifels. Oder: Hyperrealismus.
Die Filme erzählen keine Geschichten von Menschen (In «Death of a Chinese Bookie» war am Anfang der Dreharbeiten nicht einmal klar, ob es einen Mord geben wird), sondern beobachten Menschen. Was von einer Story bleibt, ist nur ein Vorwand dafür.
Mit der fast psychoanalytischen, rigorosen Subjektivität der Schauspieler, unter ihnen oft er selbst und seine Frau Gena Rowland, zerätzen diese Filme alle A-Priori von Hollywood.
In «Opening Night» erlebt man den qualvollen Zusammenprall zwischen den Schauspielern als reale Menschen und den Erfordernissen zur Umsetzung privater Gefühle im Korsett von Story, Dramaturgie und Theaterapparatur. Hauptdarstellerin verweigert das Imitieren, wie ein losgerissenes Rennpferd bricht sie aus der abgemessenen Bahn aus und galoppiert dahin, wohin sie ihre eigene Angst, Lust, Langeweile und Neurose treibt.
Der Schauspieler als die Realität selbst.
Huston, der die Mittel Hollywoods benutzt und beherrscht hat wie wenige, dessen Erstling gleich «The Maltese Falcon» war, der die wunderbaren Filme «The Asphalt Jungle» und «The Treasur of the Sierra Madre» gedreht hat, hat die Herausforderung der Verweigerer angenommen und als alter Mann einer seiner schönsten Filme gemacht: «Fat city»: eine Synthese aus der zweiflerischen Frechheit der Dissidenten in seiner Altmeisterschaft.
Vielleicht war es ein Misserfolg: weil man ihm das als Verrat angekreidet hat, oder der Film war einfach zu traurig: die Geschichte eines Mannes, der geschlagen ist, bevor er startet, aber nie zu träumen aufhört.
Brando hatte die Rolle angelehnt, weil er kein Verlierer sein wollte. Dem Gesicht von Sacy Keatch fehlt aller Glamour.
Hustons intimer, ja sogar in einem Boxfilm zärtliche Realismus macht aus seiner Hasenscharte die Wunde in seiner Seele. Um die Unerbittlichkeit des Lebens darzustellen genügt Huston fast das natürliche Licht: du die verlorene Dunkelheit der Bar, draussen die Sonne, die einem so unbarmherzig ins Gesicht schlägt, dass man im Kino die Augen schliesst.
Im Unterschied zu «Rocky I – III» kann man von «Fat City» keine Folge drehen. Da ist schon alles drin.
Es gibt Filme, die gehen so genial mit der Realität um, dass man von ihnen nichts lernen kann. Viele Filme von Chaplin und Fellini gehören dazu. Aus einer brennenden Cinematheque würde ich als erstes «Amarcord» retten.
– Filmfestival Locarno, Sektion «Carte Blanche
für Markus Imhoof»