Bundespräsident Alain Bersets zur Verleihung des Ehrenpreises der Schweizer Filmakademie an Markus Imhoof 2021
Am Morgen blicken wir als erstes in einen kleinen Bildschirm. Tagsüber arbeiten wir an einem mittelgrossen Bildschirm. Und abends entspannen wir uns vor einem grossen Bildschirm. Aber der ganz grosse Bildschirm – er fehlt uns. Die letzten Monate haben eine verstörende, aber auch eine aufklärerische Wirkung entfaltet.
Alle haben es immer wieder beteuert – aber jetzt haben wir es wirklich erlebt: Ein vitales Kulturleben gehört zu den Fundamenten einer jeden Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich weiterentwickeln und weiterdenken will, und sich nicht einfach damit abfindet, dass die Verhältnisse sind, wie sie sind.
Wegen Corona müssen wir auf vieles verzichten, was uns wichtig ist.
Nicht zuletzt auf das Kino-Erlebnis.
Deshalb freut es mich umso mehr, jetzt einem Meister des Kinos zu einem Filmpreis zu gratulieren.
Bei Preisverleihungen muss man allerdings vorsichtig sein. Als Markus Imhof vor einigen Jahren einen kantonalen Preis für sein GESAMT-werk erhielt, war er etwas irritiert: «Gesamtwerk», sagte er damals, «das klingt ja, als sei es das jetzt gewesen.» Deshalb verleiht der Bund auch keinen Preis für das GESAMT-werk – sondern einen Ehrenpreis. Dieser Preis ist also keine schweizerisch verklemmte Aufforderung, das Filmemachen per sofort einzustellen. Im Gegenteil: Dieser Preis ist ein Zeichen dafür, dass wir gespannt darauf sind, was noch kommt.
Was immer Markus Imhoof filmisch angepackt hat – er hat uns damit gepackt. Emotional und intellektuell. Von «Fluchtgefahr» bis «Die Reise». Von «Tauwetter» bis «Flammen im Paradies».
Er hat das Thema des jeweiligen Films zu UNSEREM Thema gemacht hat. Unaufdringlich, aber eindringlich.
Über «Eldorado» von 2018, der sich mit dem Thema Migration beschäftigt, hat Markus Imhoof gesagt, er habe diesen Film gemacht, um, ich zitiere: «zu sehen, was ich eigentlich NICHT sehen will». Ja, Markus Imhoof bringt uns dazu, zu sehen, was wir eigentlich nicht sehen wollen. Und nimmt uns so in die Pflicht. Er erinnert uns daran, dass die Verhältnissenicht einfach sind, wie sie sind. Sondern, dass es auf uns ankommt. Auf jede Einzelne und auf jeden Einzelnen.
Ich gratuliere Markus Imhoof ganz herzlich zum Schweizer Filmpreis in der Kategorie Ehrenpreis.
Markus Imhoofs Dank für den Ehrenpreis 2021
Danke, Herr Bundesrat Berset, für diese grosse Ehre. Mein Vater wäre sicher erleichtert, dass doch noch etwas aus mir geworden ist…. Und Danke auch, dass es nicht eine Einladung ist, abzutreten.
Mit dem schwierigsten Projekt habe ich nämlich gerade begonnen:
Es geht um drei Frauen in drei Jahrhunderten auf drei Kontinenten und die Frage: ob sie Schicksal, Zufall oder der Freie Willen anleitet und miteinander verbindet.
Lange habe ich den Freien Willen falsch verstanden, z.B. meine Rolle im Team. Am Anfang habe ich mich sehr einsam gefühlt am Set. Ich wollte mein Ding durchziehen und keine Energie verlieren, um den „Conférencier“ zu spielen, wie ich es nannte.
Aber sogar eine Bienenkönigin ist völlig hilflos ohne die andern. Bis ich merkte: es macht viel mehr Spass, wenn alle wissen, was ich suche. Ich will das ja schliesslich auch einem Publikum erzählen.
Der freie Wille funktioniert nicht auf einer Einbahnstrasse – wenn man es zulässt, kann man sich auch beschenken lassen – von den Schauspierinnen und Schauspielern, dem Team – und sogar der Realität.
Es kommt wirklich auf alle an.
Drum danke ich allen, die diesen Preis möglich gemacht haben: dem Bundesamt für Kultur, der Schweizer Film Akademie, meinen Produzenten und allen auf allen Schlusstiteln, 4 Minuten mal 22 Filme ergäbe …eine abendfüllende Dankesrede.
Wir stossen also miteinander an, wenn man das wieder darf.
Und Danke auch den Kinos – und dem Publikum – für die Hoffnung auf den Sauerstoff der Kultur, den wir bald wieder zusammen im geheimnisvollen Dunkeln einatmen.
Markus Imhoof 25.1.21
Bundespräsident Alain Bersets Laudatio für den Ehrenpreis an Markus Imhoof 2020
„Markus Imhoof hat mit seinen Filmen Schweizer Filmgeschichte geschrieben. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen zeigen von der verdienten Anerkennung dieses grossen Regisseurs. „More Than Honey“ (2012) ist bis heute der erfolgreichste Schweizer Dokumentarfilm aller Zeiten. Das politische Ganze mit dem Persönlichen verbinden… immer auf der Suche nach Menschlichkeit. So kann man das Werk von Markus Imhoof umschreiben.
Imhoof hat immer wieder auch Ärger mit seiner Filmkunst. Nach dem Verbot seines Gefängisfilms „Rondo“ (1968) lässt er sich als Gefängniswärter anstellen und schreibt das Drehbuch zu seinem ersten Spielfilm „Fluchtgefahr“ (1974). Später arbeitet er unerkannt als Eisenwichser in den unterirdischen Kanälen in seiner Geburtsstadt Winterthur. Die Gesellschaft braucht den Sauerteig und Imhoof will lieber zum Sauerteig als zur Patisserie gehören.
1981 wird sein Spielfilm „Das Boot ist voll“ – einem kritischen Blick auf die restriktive Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges – für den Oscar nominiert. Mit seinem zweiten abendfüllenden Dokumentarfilm „Eldorado“ (2018) nimmt Imhoof das Thema Jahrzehnte später wieder auf. Der Film verbindet die globale humanitäre Krise von heute mit den persönlichen Erlebnissen des Regisseurs. Die Schweiz schickt das erschütternde und engagierte Drama ins Oscar-Rennen. Für Imhoof hat der Film einen ganz persönlichen Kern. Seine Kindheitserinnerungen und seine Erkenntnis, dass auch alle andern zu sich selber „Ich“ sagen. Er verliebt sich in das fremde „Ich“.
„Das einzige, was uns am Ende bleibt, sind Erinnerungen, die auf Liebe basieren.“
Der Filmemacher Jorge Cadena portraitierte Markus Imhoof für die Verleihung des Ehrenpreises. Dieser Brief an Markus ist dafür entstanden.
Lieber Markus,
Du bis erst 6 und ich kenne schon Deine Zukunft.
Sei nicht enttäuscht:
Du bist nicht Tiefseetaucher geworden, sondern Filmemacher.
In einer eisernen Kugel wolltest Du über den Meeresgrund rollen,
und durch ein Fensterlein die Fische beobachten.
Als Filmer mache ich ja etwas ganz Ähnliches.
Du hast mir Deine Neugierde „vererbt“.
Wie Du interessiere ich mich mehr für die Opfer als für die Helden.
Neugierde ist die Voraussetzung für Mitgefühl.
Eine einzelne Biene hast Du retten wollen und hast ihr ein Nest gebaut.
Aber unser Großvater hat Dir erklärt:
eine Biene kann ohne die anderen nicht überleben.
Das gilt auch für uns:
Wir sind nicht so allein, wie du gemeint hast.
Manchmal wird daraus eine Liebesgeschichte – oder Krieg.
Zu Deiner Zeit ging der Krieg eben zu Ende
und wir waren voller Hoffnung auf die Zukunft.
Aber heute ist die Welt von Neuem bedroht!
Manche sagen: es nützt eh nichts, wenn wir aufbegehren.
Aber wenn wir’s verschlafen, wird alles noch schlimmer.
Wir müssen es zeigen! in allen Detail,
um die Zuschauer aufzuwecken – im Kopf – und im Bauch!
Jetzt ab ins Bett und Vorhang auf fürs Kino im Traum.
Ich hoffe, dass es Dir wieder gelingt, auf dem Rücken zu fliegen.
Herzlich
Dein Markus