Ein filmischer Wind unter den Flügeln des Realismus von Verena Zimmermann

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Gespräch mit Markus Imhoof über Indien, die Basler Mission, über die Freiheit des Willens, über Schicksal und Zufall und seinen neuen Film «Flammen im Paradies».

BaZ: Ihr neuer Film spielt in Indien, was war der Anlass dafür?

Markus Imhoof: Meine Mutter wurde in Indien auf einer Station der Basler Mission geboren. Sie war sieben, als sie zurückkam, und hatte sehr genaue Erinnerungen. Sie hat die Welt in Indien entdeckt und kennengelernt. Natürlich waren es andere Geschichten als die im Film erzählten, es war auch ein anderes Indien… Ich habe oft gefragt: Warum war der Grossvater in Indien? Die Mutter hat immer gesagt: «Er wollte den Menschen die Angst nehmen.» Tatsächlich hatten die Missionen von der Regierung den Auftrag, gegen Ritualselbstmorde vorzugehen. Die Witwenverbrennung war schon vorher von den Briten verboten worden. Aber die Indien-Mission war nicht in der Weise hinterfragt worden, wie ich sie jetzt hinterfragen muss. Deshalb habe ich auch so lange Zeit gebraucht, mich an diesen Film heranzuwagen.

BaZ: Sie haben also bereits in der Jugend viel von der Faszination Indiens gespürt?

M.I. Als alter Mann begann mein Grossvater in der Schweiz, die indische Kultur zu verteidigen. Er schrieb ein Vorwort zur Bhagavadgita. Er warf sich vor, in Indien einen heiligen Baum gefällt zu haben, und hatte das Gefühl, so den Tod eines seiner Kinder, das in Indien an einem Hitzschlag starb, verschuldet zu haben.

BaZ: Dann ist vieles, wovon Ihr Film erzählt, authentisch?

MI: Es ist einerseits reiches Material, das ich geschenkt bekommen habe, anderseits hat das dann zu Kino werden müssen.

BaZ: … und ist zu einer Geschichte auch über Selbstbestimmung geworden und so zu einem Film, der ein Thema, das sie immer schon beschäftigt hat, fortführt.

MI: Ich habe mich früher mehr am Eingeschlossensein und an den Dingen, die einen bestimmen, gerieben. Dieser Film ist der Versuch, davon wegzukommen. Deshalb wollte ich die Hauptfigur nicht als Opfer anlegen, sondern als eine Frau, die versucht, sich zu befreien.

BaZ: Haben Sie deshalb die Idee des Tausches der beiden Frauen entwickelt?

MI: Mich interessiert die Frage nach dem freien Willen. Wie kannst du, auch wenn du blind etwas bekommst, doch noch mitbestimmen? Georgette, die falsche Braut, sieht alles mit anderen, nicht vorerzogenen Augen. Für sie ist alles neu und erstaunlich. Sie muss in der Fremdheit eine Rolle spielen. Diese Brechung interessiert mich seit langem: In «Das Boot ist voll» müssen die Flüchtlinge sich als Familie ausgeben, in «Fluchtgefahr» versucht der Kleine, ein grosser Fisch zu sein, und gibt vor, den Überfall gemacht zu haben.

Im Film «Tauwetter» hat die Abgeschlossenheit des eingeschneiten Dorfes eine Art von Labor-Welt erzeugt. Je länger, je mehr interessieren mich Formen solcher Überhöhungen und das Erzählen in Chiffren: Der Baum ist ebenso Chiffre für eine Kultur wie das Fällen des Baumes. Dieses ist Ausdruck der Wut gegen das Vegetative, gegen die dunklen Kräfte, die Gustav bekämpft. Chiffre ist auch das Brautkleid, das Georgette zu gross ist.

Spiegeln die beiden gegensätzlichen Frauen im Film die Vielfältigkeit der Hintergründe, aus denen die Missionsbräute rekrutiert wurden, oder kamen diese doch eher wie Esther aus ärmeren Familien?

Junge Frauen aus vermögenden Verhältnissen hätten sich nicht so bestimmen lassen und waren stärker dem Ehe- und Erbkalkül unterworfen. Ich kann solche Gegensätze in meiner Familiengeschichte beobachten und frage mich auch da: Warum ist man, was man ist? Was macht einen aus? Auch deshalb interessiert mich das Thema freier Wille, Schicksal; Zufall.

Haben Sie deshalb Esther, die mehr den historischen Realitäten entspricht, durch die grossbürgerliche Georgette ersetzt?

Im Talmud ist der freie Wille nicht eine Freiheit sondern eine Verpflichtung. Du musst eine Antwort finden auf das, was der Zufall dir gibt. So bekommst du einen schöpferischen Anteil an Deinem Leben. Im Film kann man existentielle Fragen in etwas verwandeln, was sozusagen einen Geruch hat, was Emotionen auslöst.

Weshalb aber haben Sie Esther so konturenlos belassen?

Wir entschieden uns, mit Georgette zu gehen. Die Subjektivierung der Geschichte verstärkt die Fiktionalität. Ich wüsste selbstverständlich mehr von Esther und auch von Gustav zu erzählen. Aber ich zeige, was Georgette sehen kann und wie sie diesen Missionar missioniert.

Am schönsten sind die Filme, die mit dem letzten Bild eigentlich erst beginnen. Lassen Sie deshalb die Geschichte sozusagen aus dem Bild laufen?

Ich kann mit der Kamera nicht in die Utopie hineingehen. Ich würde sie zerstören. Ihr Ort ist in den Köpfen und Herzen der Zuschauer. Ähnlich ist es mit dem Schluss von «Das Boot ist voll». Wir wissen, was mit den abgeschobenen Flüchtligen passiert. Die Fähre am Schluss von «Flammen im Paradies» ist dazu ein Gegenbild, geprägt ebenfalls von einer Überhöhung, die etwas Wind unter die Flügel des Realismus bringt. Ich will das wagen können.

Was hat es gebraucht, damit das Licht in diesem Konzept von Fiktion und Überhöhung eine so tragende Rolle spielen kann?

Nach dem Brand der Kirche bis zum Schluss bleibt der Film in einem Ockerton, der einen Traumeffekt ergibt, eine Spiritualisierung. Äusserst spannend finde ich auch, wie Lukas Strebel, der Kameramann, das Licht nicht von oben in das Haus fallen lässt, sondern es über Spiegel von aussen durch die Fenster hereingeholt hat. Am Haus, einem um 1900 erbauten Missionarshaus, haben wir zwei Monate gearbeitet, an der Farbgebung, an den unterschiedlichen Verwitterungszuständen, je nach Zimmer. Das darf man allerdings gar nicht merken. Es gehört auch zum Zeichen-, zum Chiffrenhaften.

Gibt es in den authentischen Missionsberichten, die Sie bei den Recherchen herangezogen haben, etwas Ähnliches wie diesen Aufbruch am Filmende?

Die Isolation der Missionare, die kontrolliert waren von Basel aus, hat so etwas nicht zugelassen. Diese geistige Landesverteidigung, die nach Indien gesandt wurde, war enorm stark und hat die Leute in ihren Handlungen eingeengt. Das Leben fern von der Heimat war schwierig. Sehr anschaulich machen das zum Beispiel die Tagebücher von Marie Hesse, der mit einem Missionar verheirateten Mutter Hermann Hesses. Ich glaube allerdings, die Bereitschaft, die anderen Kulturen voll zu akzeptieren, ist auch heute noch nicht selbstverständlich.

 

– Basler Zeitung, 18.04.1997