Drehtagebuch zu Tauwetter, 1977

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20. November 1976
In Lavin lade ich aus dem Auto alles, was ich für 4 Monate brauche. Man gibt mir wieder das gleiche Zimmer über der Gaststube wie vor einem Jahr, als ich am Drehbuch gearbeitet habe. Auf dem Dorfplatz immer noch um 10 vor 8 die Frau mit der Milchkanne auf dem Schlitten und um halb neun der mit dem Brot. Aber hinten im Hotelanbau hört man jetzt Hämmern und Sägen von unseren Ausstattern und unternehmungslustige Radiomusik. Ich bin gespannt, wieviele Einheimische sich morgen im Schulhaus als Statisten melden.

21. November
Von den 130 Einwohnern möchten 90 gern mitspielen! Ich bin noch so ungläubig wie sie, ob das alles einmal ernst wird. Wir probieren kleine Szenen, zeichnen mit Video auf. Jetzt lachen alle und feuern einander an. Ich mag diese Leute. Ich will sie rätoromanisch spielen lassen, man versteht sie auch so.

3. Dezember
Knuti und Christoph versuchen, es auf dem Dorfplatz schneien zu lassen. Sie schütten durch ein 3 Meter langes Sieb alles, was sie an Flocken haben auftreiben können: Hundeflocken schweben doch weniger als Styropor, Seifenflocken machen ein Geschmier im Schnee. Dorfhunde schlecken auf dem Platz herum, bis sie auf die Seife stossen.

5. Januar 1977
An den Hängen gegenüber sieht man noch Gras. Ich weiss zwar, dass es nichts nützt, wenn ich wütend werde. Heute ist endlich die Schneemaschine gekommen von Margnus Celerina, eine Turbine, welche 800 Liter Wasser pro Minute in die Luft sprüht. Wenn es 10 Grad unter Null ist, wird es zu Schnee. Es ist minus 7 Grad.

7. Januar
Wir versuchen jetzt schon die dritte Nacht, Schnee zu machen. Um 10 Uhr wird noch immer alles nur nass und verkleistert uns den wenigen richtigen Schnee. Um 11 Uhr geh ich schon gar nicht mehr hin. Um halb eins in der Nacht kommt Spoeri und sagt, dass es schneit. Der Schneesumpf um die Maschine ist zu einem Panzer gefroren. Es schneit jetzt über 5 Kubikmeter. Endlich! Ich glaube es kaum, gehe näher hin: richtige kleine Eiskristalle auf dem Handschuh. Ganz nah vor dem Gesicht sehe ich zwar noch den Eissplitter aus der Düse spritzen, dann ein Schlag, wie elektrisch, Funken im Auge. Ich will den andern meine Schmerzen nicht zeigen. Nach einer schlimmen Nacht sagt der Arzt, dass ich vorläufig beide Augen geschlossen halten müsse. Die Hauptdarsteller sind angekommen. Der Drehbeginn wird verschoben. Es schneie richtig, über das ganze Dorf, erzählen sie mir im dunklen Zimmer.

12. Januar
Wir drehen jetzt. Ein Auge habe ich ganz verklebt, das andere hinter einer schwarzen Brille. Ich habe das Gefühl, in mir selber eingesperrt zu sein. Wie sollen mich die anderen verstehen? Ich habe mich noch nie so sprachlos gefühlt wie als Blinder.

13. Januar
Der Schnee liegt jetzt schon über einen Meter hoch. Wegen Lawinengefahr darf niemand das Dorf verlassen. Zwei Schauspieler, ohne die wir morgen nicht drehen können, sind noch nicht da. Um 14.00 Uhr wollen sie die Gondalawine schiessen. Wir warten auf den Knall und das Donnern und hoffen, dass es die elektrische Leitung verschont.

19. Januar
Als Mann die Geschichte einer Frau erzählen, in der sogar die Männer schlecht wegkommen. «Das siehst du wie ein Mann!» Wie sieht sie es? Es kann keine objektive Ehrlichkeit geben. Je fiktiver die Fiktion wäre, desto einfacher wäre sie wohl zu spielen. Das Gewöhnliche tut weh, weil es näher an der eigenen Haut liegt. Gila kommt nach dem Drehen mit dem Kind in ihre Wohnung, mit ihrem eigenen Kind. Gestern Nacht hat sie ihren Filmehemann aus der gemeinsamen Wohnung geworfen. Immer mehr holt die Realität die Fiktion ein. Wir sind selber die zusammengewürfelte Gesellschaft mit den verschiedensten Sprachen im abgeschlossenen Bergdorf – wie im Drehbuch.
Wir essen sehr viel Süssigkeiten und betrinken uns ab und zu, wenn wir Zeit haben.
Merkt man dem Film an, dass wir gefroren haben?
Wladimir hat ein rätoromanisches Lied entdeckt, das er schon tschechisch kennt. Wieder eine Kältepanne mit der Kamera.

22. Januar
Diana, die das Kind spielt, habe ich vor anderthalb Monaten in München unter 50 Mädchen mit Zahnlücke ausgesucht. Jetzt beginnt aber in ihrer Lücke schon der neue Eckzahn zu glänzen. Wir müssen die Szene 34 vorziehen.
(Es hat Mütter gegeben, die mir vorschlugen, ihrem Kind einen frischen Zahn auszureissen für die Rolle.)

23. Januar
Ich rechne aus, was mich das Denken kostet:
1 Drehtag durchschnittl. ca. 10’000.– Fr.
1 Stunde 1’200.– Fr.
10 Minuten Zögern 200.– Fr.
Ich habe heute für 1’875.– Fr. nachgedacht, dabei werde ich schon im Taxi nervös, wenn es tickt. Der eine Produzent hat von Kaugummi auf Coramin gewechselt.

26. Januar
Nach dem Nachtessen noch mit dem Regieassistenten und dem Skriptgirl die Liebesszene geübt.

27. Januar
Das Wesentliche ist die Summe des Unnötigen.

30. Januar
Drei Tage können wir mit Diana nicht drehen, weil sie Läuse aufgelesen hat. Sie rennt mit ihrer Giftpackung unter der Mütze durch den Schnee und lacht, weil es uns alle am Kopf beisst.

2. Februar
Ohne den Piz Mezdi könnten wir diesen Film überhaupt nicht drehen. Auch bei Sonnenschein können wir von 9–13.10 Uhr schlechtes Wetter simulieren: so lang ist Schatten, aber nur noch bis zum 14. Februar. Bei Sonnenuntergang haben wir nochmals eine Chance von 15.45 bis 16.05 Uhr. Die Einheimischen haben sich schon überlegt, ob man nicht den Gipfel absprengen könnte.

5. Februar
Heute Abend am Maskenball in Giarsun sieht sich jeder noch viel ähnlicher.

7. Februar
Holzfäller aus Sent bringen ihre Pferde und ein Maultier. Da es hinkende Pferde sein sollten, haben wir Holzklötze vorbereitet, die wir jedem unter einen Huf binden. Die Tiere sind aber so gewohnt an felsige Wände, dass sie überhaupt nicht hinken. Der Zimmermann sägt doppelt so hohe Stelzen zu.

8. Februar
Selbst in der Sauna bekomme ich den Schnee nicht aus dem Kopf.

10. Februar
Diana will nicht mehr. Trotzig sitzt sie mitten im Restaurant am Boden und zerbeisst Filmreste.
Sie sollte an der verschlossenen WC-Türe rütteln und nach ihrer Mutter rufen. «Gila ist nicht meine Mutter!» Wir verkleiden Dianas richtige Mutter als Statistin und lassen sie vorbeirennen. Da macht Diana mit, aber «Mamma» ruft sie nicht. Nachher spielt sie vergnügt mit Schubi, Gilas richtigem Kind.

14. Februar
Morgen habe ich 60 Statisten und alle Schauspieler, drei Tage lang «Nacht innen». Gegen Mitternacht gehe ich nochmals allein in den Saal und überlege mir ein Travelling. An der Kamera stosse ich mich mit einem Fuss langsam über die Schienen. Durchs Okular ist alles noch viel enger. Ich stelle mir die 80 Köpfe vor, auch wenn ich schwenke finde ich nirgends einen Ausweg. Alle schreien und passen nicht ins Bild. Ich muss ins Freie.
Beim Atmen in der kalten Luft denke ich plötzlich: ich steige jetzt ins Auto und mache mich davon, über den Maloja nach Italien, zum Frühstück kann ich schon in Mailand sein, und wenn ich einschlafe in dem vier Meter hohen Zimmer im Hotel Buci, ist hier der ganze Saal voll Statistenlärm: Die Statisten werden alle ganz leicht und ich höre sie nicht mehr. Die Wände mit den schweren Hirschköpfen werden weich, dann kommt ein Windstoss und ich bin frei.
Zwei Tage später sagt mir Gila: Vorgestern nach dem Essen bin ich einfach nach Süden gefahren. Ich sage Dir nicht, wie weit.

17. Februar
Seit zwei Tagen Föhnsturm. Man kann dem Schnee zuschauen, wie er zusammensackt. Aber Wladimir hat schöne Windaufnahmen gemacht.

18. Februar
Edith, die Requisiteurin, mit einer Lungenentzündung im Spital von Scuol.

19. Februar
Kinder von der Ferienkolonie sind heute schüchtern ins Produktionsbüro gekommen, weil sie in unserer Attrappentelephonkabine Geld eingeworfen haben. Sie telephonieren bei uns und wünschen sich von zu Hause ein Fresspaket. Es ist wieder kalt. -14 Grad.

20. Februar
Für das komplizierte Travelling im Bunker müssen wir alle die Schuhe und Windjacken ausziehen, weil die Kleider in dem engen Felsgang so laut rascheln. Zuerst ist das glatte Eis unter den Socken fast angenehm zart, bis die Kälte durchkommt.

22. Februar
Nachts kommen die Hirsche schon bis in die Gassen und fressen, was um die Stalltüren liegt. Eine erschöpfte Hirschkuh ist heute am Bahnhof gestanden, als ob sie auf den Zug warten würde. Am Nachmittag hat man sie zu Cuonz in den Stall getragen.

25. Februar
Heute morgen nicht gedreht, weil es zu kalt ist für die Kühe (-20 Grad). Gila ist krank (39,2). Der Arzt ist zweimal gekommen. Am Nachmittag vor dem Pferdezelt geht es sehr gut. Gedrehte Filmzeit 2 Minuten 30 Sekunden. Diana Engel zum Arzt, da gestürzt und Prellung an den Lippen.

2. März
Die Hirschkuh hat sich stark gefressen und ist aus dem dunklen Stall geflohen

 

– Markus Imhoof, 1977