Blog von Markus Imhoof zu „40 Jahre Mai 68“ (Schweizer Fernsehen)

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Wendepunkte
(01.05.2008)

Eigentlich wollte ich gar nie böse und gefährlich werden. Aber wenn man meine ersten beiden Filme 1967 und 1969 verbieten musste, war doch etwas nicht in Ordnung mit mir? Was war da passiert? Es hatte doch alles ganz gut angefangen:

Das Foto war 1965 das Titelblatt der Schweizer Illustrierten mit der Überschrift: „Mangel an Geisteskapital: Gefahr für die Schweiz.“

Ich war also ein wertvoller Rohstoff für die Zukunft. Fleissig schreibe ich die Vorlesung des Literaturpapstes Professor Emil Staiger mit. Er las in der Aula von einer Marmorkanzel. In den vordersten Reihen sassen die „Silberfische vom Zürichberg“, ältere gepflegte Damen mit gebläuten Dauerwellen, die immer Zeit fanden, die besten Plätze zu belegen. Wer keinen Platz fand, hörte wie ich auf dem Foto die Übertragung der Vorlesung im Auditorium Maximum ein Stockwerk darunter. Kenner sehen: ich bin auch hier zu spät gekommen, ich sitze auf dem Klappsitz. Aber das hat seine Gründe: ich lebte in einer so genannten Studentenehe mit Kleinkind und musste für das tägliche Brot am Gymnasium unterrichten und Werbeaufträge für eine Fabrik für Gummistümpfe gestalten.

Staigers „Kunst der Interpretation“ hat für mich in vielem noch heute Gültigkeit, aber 1966 hat er in seiner Dankesrede zur Verleihung des Zürcher Kulturpreises eine unqualifizierte Breitseite gegen die moderne Literatur abgeschossen: „Man gehe die Gegenstände der neueren Romane und Bühnenstücke durch. Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft…So sehen wir denn in der ‚littérature engagée‘ nur eine Entartung jenes Willens zur Gemeinschaft, der Dichter vergangener Tage beseelte.“

Hatte er wirklich „Entartung“ gesagt?! Nicht nur dieses Wort war eine Bombe! Max Frisch, der sich zu Recht persönlich angegriffen fühlte, schlug gegen diese pauschale Verunglimpfung zeitgenössischer Literatur zurück: Daraus wurde der so genannten „Zürcher Literaturstreit“.

Mir war klar, auf welcher Seite ich stand. Als Thema meiner Lizenziatsarbeit bei Staiger wählte ich Brecht, über den es damals Aufsätze gab mit dem Titel: „Darf man den Kommunisten Brecht an westlichen Theatern spielen?“

Ich hatte Brecht schon als Dreizehnjähriger verschlungen, weil es so kraftvoll anders war, als das, was bei meinem Vater, auch einem Germanisten, in den Büchergestellen stand. Brecht war mir eine Art älterer Bruder im Generationenkonflikt. Paradoxerweise hatte ich seine Bücher in einem der wohlhabendsten Häuser der Schweiz kennen gelernt, bei meinem Schulfreund und späteren Produzenten George Reinhart, dessen Familie Hauptaktionär des Suhrkampverlages war. Aber Ende der Sechziger Jahre begann sich sogar diese grosszügige Familie zu fragen: «Spielen wir mit der Unterstützung der modernen Literatur Biedermann oder Brandstifter?“ und beauftragte den Gegenspieler von Emil Staiger, den Literaturprofessor Karl Schmid von der ETH, mit einem Gutachten zur Frage, ob im Suhrkamp-Verlag die Literatur oder die Politik im Vordergrund stehe. Sogar eine Liste der politisch anstössigen Bücher wurde erstellt, aber schliesslich siegte die Einsicht der Mäzene: «Die menschliche Gesellschaft braucht den Sauerteig.» Ich wollte in der Backstube lieber zum Sauerteig als zur Patisserie gehören.

In den Drehbuchlehrbüchern wird immer die Veränderung des Helden gefordert. Zwei Hauptwendepunkte sind dabei vorgesehen, die so genannten Plot-points. Ist es ein Zufall, dass der kulturelle und politische „Plot-point 68“ auch für mich persönlich ein Wendepunkt wurde? Ist es auch ein Wendepunkt geworden für den gepflegten Kommilitonen auf dem Foto neben mir? Wie hat er sich im Literaturstreit entschieden? Wie hat er 68 erlebt? Hat es ihn verändert? Ist er zum Gegenspieler geworden?

Noch während des Studiums (das ich „zwischendurch“ zwar brav abschloss) bin ich an die Filmschule „entlaufen“, die 1967 an der Kunstgewerbeschule mit Lehrern der polnischen Filmschule Lodz und Kurt Früh als Experiment gestartet wurde. Nach all den Jahren im Musentempel der Uni habe ich beim Blick durch die Kamera die Wirklichkeit entdeckt. Das war dann wie gesagt vielen nicht recht und meine Filme wurden verboten.

 

«Jungfilmer» gegen «Opas Kino»
(08.05.2008)

Das ist unsere Filmklasse 1967 an der Kunstgewerbeschule Zürich.
(Ich sitze vorne rechts mit der Toscano im Mund. Schmeckte grässlich.) Man spürt unsere Unternehmungslust.

Der alte Schweizer Film war eben zusammengebrochen. Der erste Band der «Geschichte des Schweizer Films» endet 1965. Lazar Wechsler, der legendäre Chef der Präsens Film, welche die bekanntesten und erfolgreichsten «alten» Schweizer Filme produziert hatte, bestellte mich zwar noch in sein Büro, nachdem er meinen ersten Studentenfilm am Fernsehen gesehen hatte. Aber wir «Jungfilmer», wie wir höhnisch betitelt wurden, verkündeten an den Solothurner Filmtagen den Tod von Opas Kino. Der Gotthelfregisseur Franz Schnyder hatte für uns mit seinen «Kummerbuben» selber den Grabstein dazu geliefert.

Darum waren wir gar nicht traurig, dass der Gemeinderat die Subvention für den Bau eines Filmstudios ablehnte. Wir wollten gar kein Studio. Die Nouvelle Vague in Frankreich und die Experimentalfilme des New American Cinema hatten es vorgemacht: durch das empfindlichere Filmmaterial, die leichteren Kameras und die lichtstarken Objektive, die nicht mehr so schwere Scheinwerfer erforderten, war die gesamte Technik beweglicher geworden. Man konnte die Welt filmen wie sie ist, man brauchte sie nicht erst in Papier Maché im Studio nachzubauen. McLuhans provokativer Titel «The Medium is the Massage» bewies seine Berechtigung: Form und Inhalt beeinflussen sich gegenseitig. Man bildet die Welt anders ab, wenn man andere Mittel zur Abbildung zu Verfügung hat. Das trifft auch heute für Handykameras und YouTube zu. Man kann die Hinrichtung Saddams und den Orgasmus der untreuen Geliebten aus dem Handgelenk filmen und mit einem Klick weltweit öffentlich machen, als wäre das Leben ein Computerspiel.

Aber so schlimm waren wir gar nicht. Trotzdem wurde die Filmschule von bürgerlicher Seite kritisch verfolgt und bekämpft, weil man hinter unseren Professoren aus Polen und Ungarn Unterwanderung witterte, obwohl sie Polanski, Wajda, Forman, Szabo und andere weltbekannte Regisseure ausgebildet hatten. Gegen den Rektor der legendären polnischen Filmschule Lodge, Prof. Dr. Toeplitz, wurde bis zum Bundesrat interveniert.

Stimmt gar nicht, ich war doch schlimm: ich hatte im WK sogar drei Tage scharfen Arrest gefasst! Diese Erfahrung war der Anlass für meinen Gefängnisfilm „Rondo“, meinen zweiten Studentenfilm 1968. Ich hatte in diesen drei Arresttagen ohne Hosenträger und Gürtel mehr an Ausbruch als an Besserung gedacht. Mein Dokumentarfilm über die Strafanstalt Regensdorf fragt, wie es wohl den wirklichen Gefangenen ergeht, die jahrelang auf ihre Besserung warten müssen.

Standbild aus dem Film „Rondo“.

 

„Die Schuld der Väter ist der Zorn der Söhne“
(13.05.2008)

Diese kleine Skizze war der Anfang des Drehbuchs zum Film „Die Reise“.

Die Idee zum Film „Die Reise“ hatte mein Freund Egon Amman, der Verleger, der eben das Buch zum Film „Das Boot ist voll“ herausgegeben hatte. Er fand, Vespers autobiographischer Roman sei die richtige zweite Strophe zu meinem letzten Film, der ja 1942 spielt.

Noch bevor ich Vespers Buch ganz gelesen hatte, überredete ich meinen Produzenten George Reinhart dazu, dass wir die Rechte kauften. Der autobiographische Roman führt vor: Geschichte geschieht in Generationen -Wellen: 68 war eine Generation nach Kriegsende 45!

Die im Krieg Geborenen lernen zur Zeit des Neuanfangs zu denken, aber statt sich an einem Vaterideal orientieren zu können, haben sie sich mit der Schuld der Väter auseinanderzusetzen. Daraus resultieren die zornigen moralischen Forderungen der Söhne. Die vor der Weltöffentlichkeit schuldigen Väter waren jetzt im Kalten Krieg plötzlich einverstanden mit den Amerikanern, ihren Besiegern, die in Vietnam taten, was sie selber in Russland getan hatten: für einen „höheren Zweck“ Menschen und Dörfer niederbrennen.

Ich habe lange Recherchenreisen durch Deutschland gemacht und dabei viele der 68er Studentengeneration interviewt: der grösste Teil von ihnen hatte nie gefragt: „Papa, wie viele Menschen hast Du umgebracht im Krieg?“ Diese Frage war tabu! Es machte es einfacher, dass ich sie als Schweizer stellte. Und zum Teil an die Väter selbst. Als tiefer Eindruck ist mir das Gespräch am Abendbrottisch bei Pfarrer Ensslin in Erinnerung. Der Pastor hatte sich damals freiwillig zur Armee gemeldet, und zwar nicht als Feldprediger!

Aber 68 ist nicht Terrorismus. Es ist ein wild gewordener Auswuchs. Die Gleichung 68 = RAF ist so absurd wie die Bergpredigt für die Hexenverbrennungen verantwortlich zu machen…

Und das ist der Strukturplan des fertigen Films:

Die eine Ebene erzählt die Flucht eines jungen Vaters mit seinem fünfjährigen Sohn aus dem Terrorismus heraus. Die zweite Ebene ist die Kindheits- und Entwicklungsgeschichte dieses Vaters, der aus Opposition zu seinem Nazi-Vater in die Terroristenszene gerät.

 

Rondo – ein verbotener Studentenfilm
(18.05.2008)

Wegen der Ausstrahlung meines Films „Die Reise“ habe ich letztes Mal den chronologischen Ablauf unterbrochen und fahre jetzt mit der Filmschule von 1968 weiter:

In meinem zweiten Studentenfilm „Rondo“ rekonstruierte ich mit Strafgefangenen den Alltag im Zuchthaus, vom Topfleeren übers Papiersäcke Kleben bis zum Lichterlöschen und verglich dabei die Realität mit dem Artikel 37 des Strafgesetzbuches:
„Der Vollzug soll erziehend auf den Gefangenen einwirken und ihn auf den Wiedereintritt in das bürgerliche Leben vorbereiten.“

Der Gefängnisdirektor nahm zur Bestätigung seines Auftrags den gerahmten Goethespruch von der Wand und las ihn in die Kamera vor, der Sozialarbeiter erzählte von seiner Erfindung, den Gefangenen Sandsäcke in die Zellen zu hängen, damit sie zum Abreagieren sexueller Impulse draufschlagen konnten und schwärmte, was das für eine Befriedigung für die Gefangenen sei. Diesen Text hat man mir dann besonders vorgeworfen, weil ich ihn zum Hecheln des patrouillierenden des Nachwächter-Hundes montiert hatte.

Der Regierungsrat des Kanons Zürich verbot nach der Premiere öffentliche Vorführungen des Films mit der Begründung, ein Studentenfilm sei nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Besonders beanstandet wurde, dass ich allen Gefangenen schwarze Balken über die Augen kopiert hatte und dem Direktor und dem Personal nicht. Die nackten Gesichter wirkten irgendwie obszön.

Dass der „Französische Staatsangehörige Sartre, Jean Paul“ sich meinen Film anschauen wollte, brachte mich vollends in Verruf: Sartres Interesse ist der erste Eintrag der politischen Polizei in der Überwachungsfiche über mich. In der Schweiz, nicht in China!
Für mich ist es eine meiner wertvollsten Filmauszeichnungen.

 

Meine Fiche der Bundespolizei.

Ein solches Natternest wie die Zürcher Filmschule durfte nicht weiter genährt werden. Es sei „ein unrealisierbares und im Endeffekt den Dilettantismus förderndes Projekt mit ideologischem Unterbau“ schrieb der Filmredakteur der NZZ, welcher sogar eine Interpellation an den Gemeinderat einreichte, um eine Fortsetzung der Filmausbildung zu stoppen. Wir nahmen der Politik die schwere Last ab: unter Protest – vor allem gegen den Rektor, der uns wie kleine Schüler halten wollte – verliessen viele von uns nach zwei Jahren die Kunstgewerbeschule und fingen einfach selber an, Filme zu drehen.

Ich drehte „Ormenis 199+69“, einen Dokumentarfilm über die Kavallerie, wo ich selber eingeteilt war. Eine Woche nach der Premiere ist dieser Film ebenfalls verboten worden. Ich konnte es „ihnen“ einfach nicht Recht machen.

 

Versteckspiel mit der Zensur – Nachtrag zum Film „Rondo“
(18.5.2008)

Der „Wolf“ im Schafspelz

Ein paar Jahre nach dem Verbot meines Gefängnisfilms „Rondo“ habe ich mir die Haare abgeschnitten und habe mich in der Berner Rückfälligenanstalt Thorberg als Gefängniswärter anstellen lassen. Der Föderalismus kam mir zu Hilfe: man wusste im Kanton Bern nicht, dass ich „gefährlich“ war.

Der Zweite von rechts ist der junge Gefängniswärter Markus Imhoof auf der Sonntagswache, mit Weisswein und Bier zum Geburtstag eines Kollegen.

Zwei Monate habe ich den normalen Wärterdienst gemacht und ich schwöre, ich habe nichts dazu getan, dass mir ein Gefangener sogar abgehauen ist. Aus meinem „Gefängnistagebuch“ habe ich dann das Drehbuch zu meinem ersten Spielfilm „Fluchtgefahr“ geschrieben, der 1974 sehr erfolgreich in die Kinos kam. Das war jetzt „Fiktion“ und konnte nicht mehr verboten werden. Aber mich freute, wenn die Zuschauer die Hauptdarsteller Mathias Habich und Wolfram Berger für echte Gefangene hielten.

In jedem Kinoinserat schrieb der Verleih: „Fluchtgefahr, vom Autor des verbotenen Gefängnisfilms Rondo.“ Da kam die Zürcher Justizdirektion auf mich zu und fragte an, ob man nicht das leidige Verbot aufheben könnte…

 

 

Sind Pferde gern beim Militär?
(22.05.2008)

Der Mai ist schon bald vorbei und ich habe noch längst nicht alles erzählt. Drum kürz ich jetzt ab.

Quizfrage: Wann wurde dieses Bild aufgenommen und wer ist der Reiter links? Falsch! 1968, nicht 1914. Und es ist auch kein Russe oder mein Grossvater, ich bin es selbst. Und wie der Text unter dem Zeitungsbild verrät: der Feind kam damals natürlich von Osten.

Ich pendelte in jenen Jahren zwischen 3 Welten: dem Musentempel bei Professor Staiger an der Uni, im auffrischenden 68er Wind der Filmschule, die ich gleichzeitig besuchte, und drei Wochen im Jahr bei der Kavallerie, die zur Hauptsache aus Bauern bestand. (Wenn wir durch die Dörfer trabten, gingen die Fenster auf und die Leute applaudierten.)

Über die Kavallerie drehte ich 68/69 den Dokumentarfilm „Ormenis“ (so hiess mein Pferd). Ich stellte die einfache Frage, ob die „Eidgenossen“, wie die Dienstpferde genannt wurden, auch so gern beim Militär waren, wie die meisten, die drauf sassen.

Im Reglement der Pferdegasmaske heisst es: „Bei Atomschlag ist für die Pferde ein Augenverband aus Behelfsmaterial, z.B. Baumrinde, zu erstellen.“

Nach der Erfahrung mit „Rondo“ hätte ich es mir eigentlich denken können: öffentliche Aufführungen des Films wurden nach der Premiere in Solothurn verboten– diesmal sogar mit der „Strafandrohung Haft oder Busse“. Geldgeber setzten beim Bezirksgericht Zürich eine „kastrierte Version“ durch. Da die Fakten stimmten ging es dabei um Nebensachen. Zum Beispiel musste das Lied „Dragoner stolz zu Pferde sitzt, hell in der Sonn der Säbel blitzt“ von einem Männerchor gesungen werden, nicht wie in meiner Version von einem Schüler aufgesagt…

Gleichzeitig wurde die verboten Originalfassung ausgezeichnet mit einer Qualitätsprämie des Bundes, dem Zürcher Filmpreis und einer Silbermedaille in Venedig – ein schöner Früchtekorb für einen Film, den man unzensiert in der Schweiz nicht sehen durfte.

 

 

Euphorie und Kurzsichtigkeit
(27.05.2008)

 

Unsere Kleinfamilie hatte zwar fast kein Geld, aber Hoffnung, Aufbruch, Lust an der Selbstbestimmung waren so gross, dass wir 1968 ein zweites Kind „machten“. Und im nächsten Jahr landete man auf dem Mond.

Das Lebensgefühl meiner Tochter.

In der Euphorie, dass das Leben endlich anfing, habe ich die dummen rosa Märklein für das „Markenheft für Studenten für die Alters- und Hinterlassenen Verordnung“ nicht gekauft. Das kam mir wie eine Beleidigung vor und ich sparte ein paar Franken, die ich dringend brauchte.

40 Jahre später hiess es: „Sie haben eine Lücke, die nie mehr aufgefüllt werden kann!“ Als Strafe für die damalige euphorische Kurzsichtigkeit gibt es Rentenkürzung, monatlich, bis zum Tod.

Natürlich kenne ich die Fabel von der lebensfrohen Grille, die den Sommer über nur musiziert hat und von der fleissigen Ameise im Winter nichts abbekommt. Also bleibt auch mir nichts anderes übrig, als mich an die Musik jenes 68er Frühlings zu erinnern und jetzt dazu zu tanzen.

Das heisst: the beat goes on, ich sitze an einem neuen Drehbuch: Titel „Das Blaue vom Himmel“…

 

 

Was bleibt
(31.05.2008)

Man kann nörgeln über 68 so viel man will, die Kinder profitieren bis heute am meisten davon. Man ist sich gar nicht mehr klar, wie das vorher zuging in den Kinderzimmern. Das Bibelzitat „Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn“ wurde sehr konkret umgesetzt. Klar, ich hätte als Siebenjähriger die Scheiben im Nachbarhaus nicht einschlagen sollen, aber Vaters Reitpeitsche hat mir zu wenig Einsicht in meine Tat verholfen. Unsere Familie war keine Ausnahme. „Zieh die Brille aus und komm ins Badezimmer,“ hiess es zum Beispiel bei unseren Nachbarn, deren Vater zur Dressur des Sohnes einen Kleiderbügel verwendete.

Auch für Familien, die heute 68 feindlich gegenüber stehen, ist es undenkbar, ihre Kinder noch so zu erziehen.

Der englische Reformpädagoge A. S. Neill war eine Befreiung für uns. In seiner Schule Summerhill wollte er es den Kindern ermöglichen, ihr eigenes Leben zu leben, nicht das, was ihnen Autoritäten wie Eltern oder Erziehern vorschreiben – nach dem Prinzip „freie Erziehung und nicht frei von Erziehung.“ Sein Buch über die nichtautoritäre Erziehung ist auf Deutsch über eine Million Mal verkauft worden.

Natürlich gab es bei den Nachahmern auch Auswüchse in falsche Freiheit. In dem Kinderladen, den wir selber in einem alten Bauernhof gegründet und organisiert hatten, warfen die Kinder einmal ihre Dreiräder in die Jauchegrube. Einige fanden, man solle sie machen lassen, die Kinder würden nur so ihre Spielsachen schätzen lernen, wenn sie nachher nicht mehr Fahrrad fahren konnten.

Natürlich haben wir eingegriffen und die Kinder und die Fahrräder gerettet. „Dass ich ein „reinrassiges 68er-Kind“ bin, ist etwas zum stolz sein, finde ich,“ schreibt meine in Australien lebende Tochter. „Die Werte der 68er werden mir hier in Australien immer wieder bewusst, wenn ich mich von der hiesigen „50er-Jahre Mentalität“ befremdet fühle. Diese stösst mir auf, wenn im Lokalblättchen jede Woche die Armee idealisiert wird oder wenn ich im Schwimmbad an der Garderobe lesen muss „Zur Sicherheit der Besucher ist der Aufenthalt von Buben über fünf Jahren in der Damengarderobe nicht erlaubt. Bitte benutzen Sie den Familienumkleideraum um die Ecke.“ Wenn ich dann dorthin gehe, handelt es sich um das WC für Behinderte.“

In diesem Sinn ein Abschiedgruss meiner damaligen Patchworkfamilie: